Realitätsflucht
Peter Thiel
Systemischer Berater und Therapeut / Familientherapeut (DGSF)
E-Mail: info@praxis-fuer-loesungsorientierte-arbeit.de
Internet: http://praxis-fuer-loesungsorientierte-arbeit.de
Die nachfolgenden Anfragen wurden teilweise leicht verändert, um die Anonymität der Anfragenden zu sichern.
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: ...
Gesendet: Montag, 6. April 2020 12:59
An: ...
Betreff: Anfrage Paarberatung
Hallo lieber Herr Thiel,
ich kann nicht einschätzen, inwiefern Corona auch die aktuelle
Paarberatungs-Situation einschränkt...
Aber die Kontaktaufnahme schien mir als erster Schritt geeignet zu sein, um
nicht wieder in der Situation zu verharren...
Ich bin 44 Jahre alt und abgesehen von wenigen Unterbrechungen seit 24 Jahren
mit meinem Mann (43) zusammen. 16 Jahre verheiratet, 2 Kinder (11+14).
Vor 10 Jahren wurde bei meinem Mann Alkoholabhängigkeit "diagnostiziert", die
mir bis dahin nicht bewusst war. Die Diagnose resultierte aus meinem Wunsch, er
möge ausziehen, da ich sein Verhalten nicht mehr einordnen bzw. nachvollziehen
konnte ( Entzug aus der Verantwortung, Heimlichkeiten etc).
Mit der (völlig unerwarteten) "Diagnose", er sei alkoholabhängig, war ich
vielleicht sogar "beruhigt", denn das stellte eine Begründung für sein Verhalten
dar und dagegen gab es ja Mittel und Wege...
Während er einen medikamenten-freien Entzug machte, um in die ambulante Therapie
einsteigen zu können, ließ ich mich meinerseits von der Caritas betreuen.
Da sich mein Mann innerhalb einer Woche nach dem von mir geforderten Auszug an
eine Beratungsstelle wandte und relativ schnell zum Entzug stationär aufgenommen
wurde, zog er nach der Woche Entzug wieder bei uns ein. Meine "Auflagen" dazu
waren "kein Alkohol" und "Therapie".
Abgesehen von einem Rückfall während der ambulanten Therapie, die sich an den
stationären Entzug anschloss, ist er seit dem "trocken".
Leider hat schon spätestens diese Situation nicht dazu geführt, dass wir uns
wieder näher kommen. Ich habe bewusst darauf "gewartet", dass mein Mann sich
unser "gutes Verhältnis" zurück "erkämpft", aber irgendwann vermutet, dass er
mit dem "Kampf" gegen den Alkohol schon ausgelastet ist. So haben wir zusammen
gelebt, ohne die Situation aufzuarbeiten.
Immer wieder mal hatte ich das Gefühl, er hätte in erster Linie seine Sucht
bekämpft...nicht aber die Ursachen dafür. Seine "Realitätsflucht" sah ich in
teils exessivem "Krimi lesen", regelmäßigen Angelausflügen über Nacht oder dem
Vertiefen in handwerklichen Arbeiten. Er war gefühlt immer noch nicht "da", aber
trocken...
Mehr habe ich irgendwann auch nicht mehr erwartet...wir hatten eine gut
funktionierende "WG"!
Ende 2018 haben wir ein Haus gekauft. Im Zuge der stressigen Umbau-Situation
wurde die Situation wieder extrem angespannt und ich hatte das Gefühl, keinen
Zugang mehr zu haben. Durch einen Zufall entdeckte ich dann Marihuana und
Tabletten wie Tillidin, Hydromorphin etc.
Mein Mann entschuldigte sich mit dem Stress, dem er sich nicht gewachsen
fühlte...
Nach einigen Gesprächen "willigte er ein", sich wieder in Therapie zu begeben,
diesmal allerdings nicht bei der Caritas, sondern bei einer Psychotherapeutin.
Die Krankenkasse übernimmt diese Leistung.
Seine Termine empfinde ich als sehr unregelmäßig.
In unserem Alltag können sie nicht effektiv etwas bewirken.
Ich hatte vermutet, dass die Paarberatung sich an die Therapie anschließen
sollte, da ich fand, dass es schwierig sei, schon "zu sprechen", wo er doch
erstmal mit sich selbst etwas klären muss.
Aber ein Tag ist lang, wenn man ständig auf "Veränderung" hofft...
Unsere Rollen sind jahrelang eingefahren und angesehen von seinen spärlichen
Therapie-Terminen ist im Grunde "alles beim Alten".
Gespräche sind immer oberflächlich...fordere ich "mehr" ein, entzieht er sich.
So kommt es nie zu Streit, sondern maximal zu "dicker Luft".
Da ich diese Stimmung nicht lange aushalte, kehre auch ich "gerne" wieder zu
unserem oberflächlichen "WG-Alltag" zurück...
Ich fühle mich verbal überlegen und versuche oft, meine "Anliegen" zu
"verpacken". Im Grunde kann ich also genauso wenig "streiten", wie er.
Ich kann eigene Schwächen nicht zugeben bzw zulassen, da ich befürchte, dann
komplett die Kontrolle zu verlieren. Und diese Kontrolle über die Situation
haben zu wollen, hat sich spätestens mit der Alkoholsucht-Diagnose bei mir
gefestigt, da ich in dem Moment feststellen musste, dass ich es ggf. "allein
schaffen muss".
Mit Partnerschaft im eigentlichen Sinne hat das schon sehr lange nichts mehr
zutun.
Es bedrückt mich, dass ICH diesen Kontakt zu Ihnen einleiten muss...dass wieder
ICH die "Vernünftige" oder "Starke" sein muss...
Aber zumindest ICH möchte ja auch etwas verändern...
Unsere Kinder sind ja in dieser Situation groß geworden und ich bin auch
eindeutig damit überfordert, eine gesunde Atmosphäre für sie zu schaffen. Wie
gesagt: Streit gibt es nie, aber diese unterschwellige Unzufriedenheit ist ja
ebenfalls "greifbar"...
Ich hoffe, ich konnte einen "guten, ersten Eindruck" der Problematik vermitteln,
wenn auch nur aus meiner Perspektive...
Ich hoffe, dass Sie eine Paarberatung als "machbar" ansehen und sie nicht mit
der Therapie meines Mannes "kollidiert".
Wir brauchen glaube ich dringend einen "Übersetzer" und wenn ich einen Termin
bei Ihnen bekomme, wird mein Mann auch "freiwillig" mitkommen... umgekehrt halte
ich es für nahezu ausgeschlossen, dass ER diesen Vorschlag irgendwann gemacht
hätte...
Aktuell bin ICH ja noch für Entscheidungen "zuständig"...
Vielen Dank und liebe Grüße,
...